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"Cane-Fu" leitet sich als Wortspiel ab von dem chinesischen Begriff "Kung-Fu", der heute allgemein für asiatische Kampfkünste steht, und dem englischen Wort "cane", das zwar Gehstock oder Spazierstock bedeutet, an dessen Stelle aber in gleicher Weise ein Stockschirm zum Einsatz kommen kann. "Cane-Fu" wird jedoch nicht einfach mit "Spazierstock-Kampf" übersetzt, sondern wir verstehen unter Cane-Fu ausdrücklich die Selbstverteidigung von Menschen, die zu diesem Zweck ihren Gehstock oder Regenschirm benutzen.
Pöbeleien und Aggressionen, vielleicht sogar Übergriffe, kann es jeden Tag geben, und nicht immer haben wir die Möglichkeit, rechtzeitig wegzugehen.

Dann verhilft uns die Möglichkeit, mit unserem Schirm oder Stock wehrhaft umgehen zu können, zu einem selbstbewussteren Auftreten und vermeidet, dass wir von vornherein die Opferrolle übernehmen.

Mein Name ist Dr. Jan Fitzner, ich war niedergelassener Arzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, und ich beschäftige mich seit rund 20 Jahren mit Cane-Fu. Ich bin Jahrgang 1954 und gehöre damit inzwischen zu den Senioren, für die aber Cane-Fu ebenfalls geeignet ist. Ich hatte täglichen Kontakt zu alten Menschen, betreute Altenheime, kenne einige Formen von Seniorengymnastik und Sturzprophylaxe-Übungen und bin der Meinung, diese dürften gern allemal etwas bunter und fröhlicher ausfallen. Und hier, beim Fröhlichen, nicht beim Trockenen oder Verbissenen, setzen wir beim Cane-Fu an. Es soll unterhaltsam sein, es soll Vergnügen bereiten, aber dennoch nicht hohle Comedy sein, sondern es soll einen tieferen Sinn haben, nämlich sowohl Bewegung, als auch Selbstverteidigung.

Wie geht Cane-Fu? Wir benutzen den Gehstock dafür oder den Regenschirm. Eine Vorbildung ist für die Kurse nicht erforderlich. Wir erarbeiten uns, wie wir mit unserem Stock möglichst kraftvoll schlagen können, also effektiver als einfach nur „draufzuhauen“. Wir halten den Stock dabei solcherart hinter uns, dass er vom Gegner nicht gegriffen werden kann. Wir beschleunigen den Schlag unter Einsatz der Muskeln von Händen, Armen, Schultern und Körperbewegung und erzielen damit größere Schlagkraft, als wenn wir einfach nur von oben nach unten schlagen. Wir werden kennen lernen, wie schwer abzuwehren ein Stich mit dem Schirm sein kann, wir werden üben, den Stoß mit der Breite des Stockes zu nutzen, wenn wir beispielsweise gewürgt werden sollten. Wir werden allein üben, zu zweit oder gegen ein Schlagpolster schlagen. Aber wir werden nicht gegeneinander antreten, keine Kämpfe austragen und keine blauen Flecke bekommen. Unsere Idee wird sein: "Wir wollen miteinander lernen" und nicht "Ich muss gewinnen".
Wir schlagen auf Stöcke und Pratzen und steigern unter Vorsicht die Kraft der Schläge. Gerade Kontrolle und Selbstdisziplin sind Tugenden, die in Kampfsport und Kampfkunst generell großgeschrieben werden. Was uns auf der anderen Seite aber von Kampfsportvereinen unterscheidet, ist, dass wir wissen, dass wir auch Senioren unter uns haben, und dass wir deshalb weder Fitness, noch Ausdauer, noch starke Belastbarkeit generell voraussetzen können.
Dennoch werden wir etwas für unsere Fitness tun. Wir werden die starke Haltemuskulatur des Körpers beanspruchen und damit trainieren. Das merken wir an dem leichten Muskelkater, der sich nach einem Training einstellen mag. Und es gibt eine sogenannte „Schrittarbeit“, womit spezielle Schrittfolgen gemeint sind, die uns helfen, beim Schlag stets das Gleichgewicht halten zu können. Hier wird neben der Kraft der Beinmuskulatur auch die Koordination gefördert, beides Basiselemente der Sturzprophylaxeübungen.


Bevor wir beginnen, machen wir Lockerungs- und Aufwärmübungen, damit sich keine Verspannungen oder Zerrungen einschleichen. Aber wir wissen auch, dass realistische Selbstverteidigung und Lockerungsgymnastik streng genommen nicht zusammengehören, denn nachts im Stadtpark, wenn wir uns tatsächlich einmal wehren müssten, dann steht keine Sekunde zur Lockerung zur Verfügung.

Wenn wir uns dann zum Trainieren den Gegner vorstellen, entstehen Gedanken, die um körperliche Gewalt oder auch um ihr Gegenteil, um Mitmenschlichkeit, kreisen. Oder die Überlegungen zum Notwehrparagraphen: Sie führen immer wieder zu interessanten Diskussionen, auch über die Unterrichtszeit hinaus. Denn ich muss mir in der Tat rechtzeitig überlegen, wie weit ich in einer Konfliktsituation zu gehen bereit bin. Will ich es gegebenenfalls darauf ankommen lassen, den anderen mit meinem Schirm zu verletzen, oder mit meinem Stock ihm vielleicht sogar ernsthaft zu schaden? Ich muss mir mein Handlungsmuster und meinen Handlungsspielraum VOR einem möglicherweise körperlichen Konflikt zurecht legen, IM Konflikt ist es dann zu spät, da ist keine Zeit mehr für Hin- und Herüberlegungen oder für Abwägungen.
In Zeiten, in denen ich viel über Übergriffe lese, ist es für mich selbst fruchtbringend, mir über meine eigenen Gedanken zur Gewalt und über mein Verhalten, wie ich mich selbst einschätze, Rechenschaft abzulegen.

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Wenn wir nun Cane-Fu in Deutschland suchen, so suchen wir fast vergeblich.
Der Stock ist die älteste Waffe des Menschen. Den Stock, den wir möglicherweise sowieso dabei haben, zur Selbstverteidigung zu nutzen, ist daher naheliegend. Und dennoch wird diese Verteidigungsart bei uns kaum unterrichtet. Es gibt die Kobudo (Bauernwaffen)-Künste aus asiatischen Ländern oder den 1-Meter-Stock, genannt Hanbo, in Japan. Und England, Irland, Frankreich (Canne de Combat / Spazierstockfechten) haben ihre Stocktraditionen. Doch in Deutschland hat sich diesbezüglich nichts etabliert.
Jetzt neu entwickelt sich das "Cane-Fu" in den USA. Dort breitet es sich zur Zeit wie eine Welle aus. Es verbreitet sich zwar mit der Idee der Selbstverteidigung, tritt jedoch durchaus auch als reine Fitnessbewegung auf.
Und bei uns? Ich weiß in Deutschland ganz vereinzelt von anderen Lehrern, doch im Wesentlichen bleibt selbst Google beim Suchen leer.
In den letzten Jahren habe ich nun amerikanische Cane-Fu-Ideen, Elemente aus der europäischen Fechttradition und Stocktechniken anderer Länder überarbeitet und ausgewählt, sodass auch und gerade Senioren die Gehstockselbstverteidigung ohne Kampfsportakrobatik ausüben können. Springen, Treten, Werfen – das können eher die Jungen, Ältere sind dazu häufig nicht mehr in der Lage. So habe ich die Tritte, die viele von uns von der Standfestigkeit und der Beweglichkeit her nicht bewältigen können, und die Hebeltechniken, die sehr übungsintensiv und häufig mit Würfen verbunden sind, herausgenommen, und unser Repertoire besteht im Wesentlichen aus kurzen Schlag- und Stoßsequenzen, die keine länger ausdauernde Kondition verlangen.
Was wir zur Verteidigung mit Schirm oder Stock sicher nicht brauchen, ist eine asiatische Kampfjacke oder ein schwarzer Gürtel, wie wir es von Amerika vorgemacht bekommen, wenn wir uns im Computer YouTube-Cane-Fu-Filmchen ansehen. Ganz zu schweigen davon, dass man, um ein echter Kampf-Schüler zu sein, auf jeden Fall erst einmal barfuß gehen muss. Dies wird uns so suggeriert, jedoch möchte ich nicht im Herbstregen auf einem Parkplatz vor dem Supermarkt zwischen den herumliegenden Scherben barfuß antreten müssen.

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Wenn wir boxen gelernt haben oder Judo anwenden können, dann ist das auch eine großartige Sache. Niemand sagt, wir müssten unseren Stock benutzen. Aber wenn wir in einer fröhlichen Gruppe lernen, AUCH den Stock zur Abwehr zu benutzen, dann kann das ein sinnvoller Baustein in unserem Repertoire sein. Ich fand zu Cane-Fu, weil mich der Gedanke, meinen Krückstock oder Stockschirm zum Zwecke der Selbstverteidigung einzusetzen, seit Jahren begeistert. Es handelt sich dabei um die einzigen "Waffen", die ich legal überall hin mitnehmen darf. Ich habe meinen Stock auf Flugreisen mit dabei gehabt, und er wurde mir nach der obligaten Röntgenkontrolle vom Sicherheitspersonal wieder ausgehändigt. Dies wird so mit keiner anderen Waffe geschehen. Wenn ich also in Kategorien von Selbstverteidigung denke, so liegt es nahe, mich mit meinem Stock zu befassen und seine Möglichkeiten auszuloten. Und insgesamt: je mehr ich kann, desto besser.

Zum Glück steht mir nicht bei jeder Konfrontation gleich ein Mörder oder ein Totschläger gegenüber. Glücklicherweise läuft es nicht immer auf einen Kampf auf Leben und Tod hinaus. Denn dann haben ja alle, und ich als Senior schon gleich, schlechte Karten. Oft wird nur ein leichtes Opfer gesucht, ein Opfer zum Demütigen, da will der Täter gar keinen Kampf ausfechten. Wenn aber das vermeintliche Opfer plötzlich wehrhaft ist, dann mag es sein, dass der Angreifer ablässt und sich ein leichteres, ein einfacheres Ziel sucht. Somit haben wir hier ein Einsatzbeispiel für unseren Schirm oder Stock. Aber es genügt dann nicht, mit ihm nur so zu tun als ob, sondern es ist wichtig, tatsächlich auch mit ihm umgehen zu können. Den Unterschied wird man nämlich merken.

Wir wissen um die Ängste, die wir selbst haben und die uns MitbürgerInnen schildern, wenn es darum geht, beispielsweise abends noch auszugehen. Und wir wissen um die bewusste oder unterbewusste Schutzfunktion, die selbstsicheres Auftreten hier spielen kann. Wenn wir uns abgrenzen mit einem lauten "Halt!" oder "Stop!", so hat allein dies unzweifelhaft in vielen Fällen bereits eine Abwehrwirkung. Und wenn wir darüber hinaus mit Cane-Fu noch auf eine weitere Ebene der Verteidigung zurückgreifen können, dann wird dieses "Halt!" oder "Stop!" umso definitiver und damit wirksamer und glaubhafter ausfallen. Cane-Fu nützt, selbst bevor wir mit dem Stock schlagen oder mit dem Schirm stechen.

Aber trotz allem bleiben die Prinzipien der Vermeidung, also zu heiklen Situationen gar nicht erst hinzugehen oder bei erkannter Gefahr sich rasch zu entfernen, immer vorrangig. Ist ein Konflikt entstanden, dann ist es unumgänglich, verbale Deeskalation einzusetzen, die man ihrerseits in Kursen lernen sollte. Und das Handy zum Hilfeholen ist heute unsere Waffe Nr. 1. Besondere Frage an die SeniorInnen: Haben Sie ein Handy, und haben Sie es auch dabei?
Auch nach einem Cane-Fu-Kurs gelten diese Grundsätze weiterhin.

Ein Stock kann ein kunstvoller und wertvoller Gegenstand sein. Im 19. Jahrhundert gehörte er zur Garderobe eines jeden Gentleman, der "Sir" trug den Stock, die "Lady" einen Schirm, oder Johannes Heesters ging mit dem berühmten Knaufstock ins Maxim. Der Stock hatte nicht immer den Ruf einer Behindertenhilfe, man konnte durchaus einmal stolz auf seinen Stock sein, und das kann man auch heute noch. Vielleicht ist er aus Edelholz, vielleicht ist sein Griff oder Knauf aus Leder oder Silber oder er ist mit Horn oder Halbedelsteinen verziert. Dann sind unsere Stöcke Wertgegenstände und Kunstwerke und man kann durchaus auch eine Sammlung von schönen Stöcken anlegen. Bei den Schirmen ist die Variationsbreite nicht so groß, aber schöne Griffe oder Besondere Musterungen finden wir auch, und wir können zwischen dem besonders stabilen Stützschirm, dem umhängbaren Wanderschirm oder dem unzerstörbaren Sicherheitsschirm auswählen.


Aber mit Schmuckstücken sollte man dann nicht üben, denn auch wenn wir mit großer Selbstkontrolle schlagen, so bekommen unsere Stöcke und Schirme beim Trainieren doch „Macken und Dellen“ und das wäre gar zu schade bei einem Kunstwerk. Deshalb benutzen wir sehr einfache Holzstockmodelle, die für die Kurse gestellt werden.

Natürlich können wir uns auf einen Schirm beschränken, aber überlegen wir uns auch, ob es tatsächlich so blamabel ist, mit einem Stock gesehen zu werden. Ich habe es nicht so erlebt. Wenn der Stock, den ich dabei habe, überhaupt eine Rolle spielt und bewusst wahrgenommen wird, dann führt dies in erster Linie zu Respekt und Hilfsbereitschaft. … Und dennoch ist er fast eine Waffe.

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